ARTIST STATEMENT

Sylvia Witzenmann – eine Künstler-Handwerkerin

Die Erfahrungen aus dem kleinteiligen Arbeiten beim Goldschmieden – sind für die Malerei im großen Maßstab von Vorteil. Erfahrungen, die im großen Maßstab der Malerei erworben werden – wirken sich wiederum befruchtend auf das konzentrierte Goldschmieden aus. Wie bei einer Lemniskate ist der Fluss kreativer Energie endlos.

Sylvia Witzenmann wurde 1941 in München geboren und wuchs in Pforzheim auf. 1968 erwarb sie einen MBA Abschluss in Fontainebleau und kehrte dann nach Deutschland zurück, um in der Industrie als PR-Managerin zu arbeiten. In den frühen 1970er Jahren erkannte sie, dass dies nicht ihr Lebensweg war und sie schloss mit sich selbst einen Pakt – Künstlerin zu werden.

So schrieb sich Sylvia Witzenmann als Kunststudentin an der Fachhochschule für Gestaltung in Pforzheim ein und studierte dort Malerei, Druckgrafik, Emaillieren, Batik und Bildhauerei. 

Im Jahr 1974 kam sie nach New York und vervollkommnete ihre Ausbildung im Bereich Goldschmieden und Emaillieren bei Robert Kulicke und Jean Reist Stark, die zwei Lehrmeister die auch in der bildenden Kunst versiert waren.   
Damals fand sie ihre erste Profession – das Goldschmieden. Sie erwarb dabei aber nebenbei auch die Kompetenzen, die für sie später im Bereich der Malerei wesentlich werden sollten. Techniken, die sie als Goldschmiedin benutzte wurden später auf ein anderes Medium übertragen und in ihren Malprozess integriert. Diese Einheit der künstlerischen Disziplinen steht in direktem Zusammenhang mit Witzenmanns Philosophie: 

Sie bezeichnet sich selbst als eine Künstler- Handwerkerin.  Sie besteht darauf zuerst ihr Medium zu beherrschen und dann neben der Technik auch die künstlerische Kreativität ausleben zu können. 
Witzenmanns Streben nach strenger Kontrolle beim Aufbau ihrer Gemälde beruht direkt auf der Präzision und Aufmerksamkeit, die das Goldschmieden erfordert. Sie verbrachte viele Jahre damit, ihre Hand und ihre Augen zu schulen, indem sie die Techniken des Treibens, der Granulation und des Emaillierens weiterentwickelte und zusätzlich das dreidimensionale Aufbauen von Formen in Metall bei dem italienischen Künstler Bruno Martinazzi studierte.

Über 20 Jahre unterhielt Sylvia Witzenmann ein Atelier im New Yorker Diamond District, sowie ein Maler Atelier in Hells Kitchen. Witzenmann verfolgt das klassische Ideal eines Goldschmieds, unterschiedliche  Techniken in einem Schmuckstück zu vereinen. Ihre bevorzugten Materialien sind dabei Gold in allen Legierungen, sowie Platin, Weißgold und Silber. Wertvolle Edelsteine in den unterschiedlichsten Schliffformen, ebenso wie pavée gefasste Diamanten oder Farbsteine integriert sie in ihre Entwürfe. Wichtig ist ihr dabei stets die Zusammenarbeit zwischen Designer und Kunde, um die individuelle Persönlichkeit des Trägers im Schmuck zum Ausdruck zu bringen. Ein Schmuckstück sollte dem Charakter des Steins Tribut zollen und gleichzeitig die harmonischen Linien des menschlichen Körpers widerspiegeln. Einflüsse all dieser Techniken finden sich in vielen ihrer großformatigen Gemälde, die Schicht für Schicht aus Farbe, häufig pastos, auf der Leinwand aufgebaut werden, um ein Gefühl von Substanz zu schaffen und die reale und fiktive Welt darzustellen. Sylvia Witzenmann drückt sowohl die menschliche Erfahrung als auch die Realität in ihren Werken aus.

Sylvia Witzenmann erwarb ein kleines Haus in East Hampton, wo sie bereits seit 1983 die Sommer verbracht hatte. Hier in Springs, am Gerard Drive (wo schon Jackson Pollock und Willem de Kooning gewirkt haben) war sie fasziniert von den Küstenlandschaften, dem Wasser und den wechselnden Lichtverhältnissen.

Bald entstanden, neben den plein air gesehenen, stärker mimetischen Taglandschaften, während der Nachtstunden in ihrem Atelier die Nachtlandschaften.
Dieser befreiende Prozess führte von der an impressionistischer Beobachtung orientierten Wiedergabe des Gesehenen hin zu einer inneren Übersetzung in expressive Bilder. Diese Nachtbilder unterscheiden sich sehr stark von den Tagansichten, die Farben sind dunkler, mysteriöser, die Pinselstriche vehementer und furioser. Es geht ihr dabei nicht mehr um eine Ähnlichkeit mit der Realität, sondern darum, eine bestimmte Stimmung zu vermitteln, die die Landschaft in ihr hervorruft. So entwickelte sie ihren Stil hin zur abstrakten Landschaften unter Beibehaltung klaren Hinweisen auf Vordergrund, Hintergrund oder mehrere Horizontlinien. Der Betrachter kann natürliche Formen wie Gewässer, Berge, Höhlen oder Himmel erkennen. Es ist aber auch offensichtlich, dass diese Landschaften eine Innenschau verbildlichen, die Witzenmann in sich selbst oder im Mythos entdeckt hat.

Es gibt in ihrem Schaffen eine Reihe von Werken, die an verlorenes leben erinnern:

Der schicksalhafte TWA-Flug 800, der 1996 über dem Long Island-Sound abstürzte und das groß angelegte Triptychon „TWO SUNS WEEPING“ zum Gedenken an die Ereignisse vom 11. September im Jahr 2010. Nach ihren Erfahrungen mit der Landschaft begann Witzenmann, Figuren darzustellen, um den menschlichen Körper zu erforschen. Ähnlich wie in ihren abstrakten Arbeiten sind diese Gemälde gestisch und ausdrucksstark. Eine gewisse Jenseitigkeit in ihren Figuren ist auf die Praxis der Künstlerin zurückzuführen, ihre Formen nicht auf Modelle oder Fotografien zu stützen, sondern aus dem Gedächtnis heraus zu entwickeln. Wie in allen ihren Arbeiten ist die Farbe der Ausgangspunkt, aus der die Figur oder andere Bildgegenstände aufgebaut werden. In vielen Figurendarstellungen von Sylvia Witzenmann wird eine latente Bedrohung deutlich. Ihre Forderung nach Menschlichkeit und Mitgefühl hat sie in Gemälden wie KIDNAPPED oder ABU GHRAIB oder auch im Bild ITS THE MAPS MAN formuliert. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass die Menschheit elementar von Fragen des Krieges und des Friedens berührt wird.
Witzenmanns Kunst erforscht viele aktuelle technische, philosophische und spirituelle Fragestellungen. Dabei ist ihr Schaffen geprägt von unterschiedlichen Einflüssen. Das sind zum einen ihre Erziehung und umfassenden humanistische Bildung in Deutschland, die Inspiration durch die Erfahrung deutscher Landschaften und die Rezeption der deutschen Romantik und des Expressionismus. Ihr ausgeprägter gestischer Stil speist sich eher aus dem amerikanischen Erbe des abstrakten (Expressionismus). 
Zahlreiche Arbeiten auf Papier, Reiseskizzen, großformatige Linoldrucke und expressive Kreidezeichnungen standen 2019 im Zentrum von zwei Einzelausstellungen in Pforzheim. Witzenmanns Hintergrund als Goldschmiedin, ihre Reisen um die Welt und ihr universelles Interesse an Wissenschaft, Politik und Kultur prägen auch ihr künstlerisches Schaffen.

Vor allem aber ist es ihre Absicht, allgemein menschliche Erfahrungen und das Bewusstsein der eigenen Gegenwart einzufangen. 

Die zeitlosen Bildthemen, die grundlegende Fragen der Menschheit und unserer Zeit thematisieren, verleihen den Arbeiten von Sylvia Witzenmann ein hohes Maß an Relevanz.